20 Jahre Engagement für Kinder psychisch erkrankter Eltern – Fragen von Prof. Dr. Jörg Maywald an Katja Beeck

Im Rahmen des aktuellen Themenheftes Frühe Kindheit 6/2020 zum Thema „Wenn Eltern psychisch krank sind – was brauchen die Kinder?“ hat Prof. Dr. Jörg Maywald, der Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind, Katja Beeck von der Initiative „Netz und Boden“ erneut Fragen zum Thema gestellt. Beide sind sich erstmals vor knapp 20 Jahren begegnet, als Fachkreise in Deutschland die Problematik von Familien mit psychisch erkrankten Eltern begannen aufzugreifen und die Deutsche Liga für Kind zum ersten Mal ein Themenheft der Frühen Kindheit heraus gebracht hat.

„Jedes Kind sollte hilfreiche Erwachsene um sich haben, die dazu beitragen, dass seine Bedürfnisse – auch die emotionalen – ausreichend erfüllt werden“

Maywald: Vor rund zwanzig Jahren haben Sie „Netz und Boden“ gegründet, eine Initiative für Kinder psychisch kranker Eltern. Wie ist es dazu gekommen?

Beeck: Die Initiative „Netz und Boden“ zu gründen, war für mich ein wichtiger Schritt, meine Erlebnisse mit meiner Mutter, die an schizo-affektiven Psychosen litt, positiv zu nutzen und ihnen einen Sinn zu geben, getreu dem Motto „Aus Steinen, die dir in den Weg gelegt werden, kannst du auch etwas Schönes bauen.“ In meiner Kindheit und Jugend in den 1980er Jahren dachte ich immer, ich wäre die einzige, deren Mutter eine solche Erkrankung hat. Meine Suche nach Unterstützung blieb damals erfolglos. Mitte der 1990er Jahre wurde das Thema von der Angehörigenbewegung psychisch Kranker aufgegriffen und dann auch in der Jugendhilfe und vereinzelt in der Erwachsenenpsychiatrie „entdeckt“. Auf diesen ersten Fachveranstaltungen habe ich gemerkt, dass ich das Erleben einer solchen Erkrankung aus Sicht eines Kindes einfühlbarer machen und Unterstützungsansätze entwickeln konnte. In meiner Diplomarbeit habe ich mich dann damit beschäftigt, wie man mit einer Website Kinder mit psychisch erkrankten Eltern unterstützen kann. Das waren die Anfänge von „Netz und Boden“.

Maywald: Was haben Sie mit der Initiative bisher erreicht?

Beeck: Am meisten hoffe ich, dass es einigen der von der Erkrankung ihrer Eltern erheblich mitbetroffenen Kinder etwas besser geht. Damit meine ich nicht nur minderjährige Kinder, sondern auch Erwachsene, die mit psychisch erkrankten Eltern aufgewachsen sind und sich seit ihrer Kindheit um diese kümmern. Das lässt sich allerdings nur schwer messen, weil die Initiative mit ihren Angeboten überwiegend nicht direkt bei den Kindern ansetzt, sondern bei ihren Unterstützern wie deren Eltern und weiteren Angehörigen sowie vor allem bei Fachkräften und Multiplikatoren. Auf jeden Fall konnten einzelne Kinder durch Beratung unterstützt werden, durch eine virtuelle Selbsthilfegruppe und von der Initiative angeschobene oder durch Beratung geförderte regionale Unterstützungsangebote wie beispielsweise Patenschaftsangebote. Die in einer Broschüre veröffentlichten Beiträge erwachsen gewordener Kinder haben anderen Kindern – vor allem Kindern, deren Mütter an Psychosen erkrankt sind – auf jeden Fall das Gefühl gegeben, nicht allein in ihrer Situation zu sein. Das weiß ich aus persönlichen Rückmeldungen. Auf jeden Fall hat die Initiative dazu beigetragen, dass die Belastungen von Kindern mit psychisch erkrankten Eltern mehr in der Fachöffentlichkeit, aber auch in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Konkrete Unterstützungsmöglichkeiten wie Notfallbriefe wurden entwickelt, vorhandene Unterstützungsansätze wie Patenschaften und eine stärkende Gesprächsführung mit Kindern aufgegriffen, weiter entwickelt und bekannter gemacht. Im Rahmen eines EU-Projekts passierte das auch über die deutschsprachigen Grenzen hinaus. Allein über 12.000 Fachkräfte verschiedenster Fachrichtungen konnten im Laufe der Jahre über Seminare, Vorträge oder Workshops persönlich erreicht werden. Hinzu kommen die Leser der Broschüren, von denen allein die erste über 10.000 Mal bestellt wurde. Außerdem betreibt die Initiative seit 2003 eine Internetseite zum Thema, auf der unter anderem die regionalen Unterstützungsangebote im deutsprachigen Raum verzeichnet sind.

Maywald: Die große Gruppe der Kinder, die mit einem psychisch kranken Elternteil lebt, ist keinesweg homogen. Art und Intensität der seelischen Erkrankung sowie die Familienkonstellation können sich ebenso unterscheiden wie die Belastungen und individuellen Folgen für das Kind. Gibt es dennoch Gemeinsamkeiten zwischen den betroffenen Kindern und welche Unterschiede sind vorhanden?

Beeck: Gerade in den letzten Jahren, in denen das Thema Kinder mit psychisch erkrankten Eltern immer häufiger aufgegriffen wurde, ist es mir ein wichtiges Anliegen geworden, mich für eine differenzierte Wahrnehmung der großen Gruppe „der“ Kinder psychisch erkrankter Eltern, aber auch „der“ psychisch erkrankten Eltern einzusetzen. Sie haben eben schon wichtige Faktoren angesprochen, in denen sich die große Gruppe der Kinder erheblich voneinander in ihren Belastungen und ihrem Unterstützungsbedarf unterscheidet. Zusammen isoliert mit einer Mutter aufzuwachsen, die chronisch an einer schweren bipolaren Störung oder einer Schizophrenie leidet, ist eine ganz andere Belastung für ein Kind, als wenn ein Vater einmalig aufgrund einer Arbeitslosigkeit eine leichte Depression entwickelt, die er wieder überwindet und bei der das Kind letztendlich die ganze Zeit jemanden an der Seite hatte, der es auch emotional versorgt. Letztendlich geht es wie bei allen Kindern immer wieder um die Frage: Sind die physischen und emotionalen Bedürfnisse eines bestimmten Kindes ausreichend erfüllt oder nicht? Die Ursache für einen Versorgungsmangel ist dabei zweitrangig. Werden die Grundbedürfnisse des Kindes wie ein Dach über dem Kopf, Schlaf, Essen und Trinken, witterungsangemessene Kleidung, medizinische Versorgung und eine gewisse Hygiene nicht erfüllt, sind die Folgen für ein Kind ähnlich. Bei einer langfristigen emotionalen Unterversorgung unterscheiden sich die Auswirkungen auf Kinder voneinander. Ich orientiere mich dabei an den vier Rollen, die Sharon Wegscheider für Kinder von alkoholabhängigen Eltern entwickelt hat: Der Held – das Kind, das bei emotionaler Vernachlässigung parentifiziert, das schwarze Schaf, das stille Kind und der Clown. Dabei wird die Rolle, die ein Kind in seinem Familiensystem einnimmt, vor allem von seiner Geschwisterposition und seinem Grundtemperament beeinflusst. Entsprechend seiner Rolle führt dann eine Vernachlässigung des Kindes zu bestimmten Fehlentwicklungen. Und diese sind dann bei Kindern, die dieselbe Rolle inne haben, sehr ähnlich. Aber Spannend finde ich noch, dass die Folgeschäden für Helden und stille Kinder selbst bei gravierender emotionaler Vernachlässigung oft unterschätzt werden.

Maywald: Neben Ihrem Engagement für „Netz und Boden“ haben sie viele Jahre in Berlin das Patenschaftsangebot für Kinder mit psychisch erkrankten Eltern bei AMSOC e.V. mit aufgebaut. In welchen Fällen sind Patinnen und Paten eine geeignete Hilfe und was muss dabei beachtet werden?

Beeck: Grundsätzlich sollte jedes Kind genug hilfreiche Erwachsene um sich haben, die dazu beitragen, dass seine Bedürfnisse – auch die emotionalen – ausreichend erfüllt werden. Das bekannte afrikanische Sprichwort „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“ beschreibt das treffend. Doch immer mehr Kinder haben keine Großfamilie mehr um sich. Die Familiengrößen und die räumliche Nähe der Angehörigen untereinander haben sich geändert. Vor allem, wenn dann eine Mutter chronisch schwerwiegend erkrankt – psychisch oder somatisch – und dann krankheitsbedingt nicht mehr so für ihr Kind da sein kann, wie das Kind es aber braucht, ist auch das Kind auf Unterstützung durch Dritte angewiesen. Wenn es dann keinen „Pate“ bzw. „Mentor“ aus dem familiären oder sozialen Umfeld für das Kind gibt, sollte es Stellen geben, die diesen vermitteln und die Patenschaft begleiten. Für deren Gelingen ist unter anderem entscheidend, dass zwischen Patin beziehungsweise Pate und Elternteil eine wertschätzende Beziehung entsteht, die über viele Jahre hält. Konkurrenz untereinander sollte vermieden werden. Es geht um ein alternatives Beziehungsangebot für das Kind und gleichzeitig eine Entlastung des erkrankten Elternteils. Da psychische Erkrankungen die Beziehungsgestaltung erschweren, ist gerade bei Patenschaften, bei denen Eltern psychisch erkrankt sind, deren dauerhafte Begleitung essentiell. Hinzu kommt, dass die Paten sorgfältig ausgewählt werden sollten. Es geht hier schließlich nicht nur um einen sporadischen Notfalleinsatz, sondern um die Bereitschaft, ein Kind dauerhaft zu begleiten. Gerade diese langfristige Perspektive ist aber nicht nur für Kinder, sondern auch für Paten attraktiv. Paten bauen eine enge Beziehung zu einem Kind auf, ohne es dauerhaft vollständig versorgen zu müssen. Denn der Lebensmittelpunkt des Kindes bleibt bei seinem erkrankten Elternteil. Nur im Notfall versorgen Paten ihr Patenkind nur zeitlich begrenzt vollständig.

Maywald: Psychisch erkrankte Eltern lassen sich als Frauen und Männer im System der Erwachsenenpsychiatrie behandeln. Ist dieses System darauf ausgerichtet, auch die Kinder dieser Eltern in den Blick zu nehmen und in die Behandlung angemessen einzubeziehen?

Beeck: Wenn jemand schwerwiegend erkrankt ist, spielen Angehörige immer eine wichtige Rolle, um den Erkrankten zu unterstützen und seinen Genesungsprozess zu fördern. Diese Rolle wird auch im Gesundheitssystem erkannt, das dadurch entlastet wird. Diese Rolle darf aber nicht Kindern in Bezug auf ihre Eltern zugeschrieben werden. Hier sollte das gesamte Familiensystem im Blick behalten werden. Bei Entscheidungen im Gesundheitssystem sollte bedacht werden, dass es bei einer schweren Erkrankung von Eltern, die mit minderjährigen Kindern zusammenleben, stets die Kinder mitbetroffen sind und – je nach konkreter Familienkonstellation – ihrerseits Unterstützung durch den Behandler ihrer Eltern brauchen. Diese Erkenntnis kommt zunehmend auch in der Erwachsenenpsychiatrie an, hängt aber noch zu sehr vom Zufall ab. Es gibt keine flächendeckende Sensibilisierung dieser Fachkräfte. Das ist in Finnland beispielsweise anders. Da wurde das Thema Kinder mit psychisch erkrankten Eltern in die Aus- beziehungsweise Weiterbildung von Fachkräften, die in Gesundheitsberufen arbeiten, aufgenommen. Das in Deutschland flächendeckend zu ändern, ist aufgrund unserer föderalistischen Strukturen und formaler Vorgaben von Berufsverbänden sehr aufwendig und gestaltet sich schwierig. Dabei spielen die Behandler der Eltern eine entscheidende Rolle für die Kinder. Mit ihrer Hilfe könnten Kinder rechtzeitig unterstützt und gegebenenfalls auch geschützt werden. Denn nicht in jedem Fall ist die Jugendhilfe bereits involviert. Um eine Zusammenarbeit zwischen Erwachsenenpsychiatrie und Jugendhilfe auf solide Beine zu stellen, ist es auf Seiten der Erwachsenenpsychiatrie wichtig, die Zusammenarbeit als Bereicherung für die eigene Arbeit wahrzunehmen und eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln. Die nächste Generation vor psychiatrischer Erkrankung zu bewahren, ist im Sinne unserer Gemeinschaft und auch der erkrankten Eltern.

Maywald: Familien mit einem kranken Elternteil verschließen sich häufig nach außen. Die Kinder geben sich große Mühe und übernehmen so gut sie es eben können Versorgungsaufgaben im Alltag. Welche Möglichkeiten gibt es, diese Familien dennoch möglichst frühzeitig und niederschwellig zu erreichen, zum Beispiel in Kitas und Schulen?

Beeck: Da in der Kita im Vergleich zur Schule der Kontakt zu den Eltern recht eng ist, besteht hier die bessere Chance, die Eltern direkt zu erreichen, um sie für die Mitbetroffenheit ihrer Kinder zu sensibilisieren und sie für Unterstützung für sich und ihr Kind zu öffnen. Wichtig dabei ist, dass die Erzieherinnen und Erzieher signalisieren, dass psychische Erkrankungen weit verbreitet sind und sich keiner für sie zu schämen braucht. Damit Eltern sich nicht bedrängt fühlen, empfehle ich Kitas, das Thema standardisiert auf jedem ersten Elternabend, wenn viele Kinder neu aufgenommen wurden, anzusprechen oder es Eltern als schriftliche Information bei Eintritt eines Kindes in die Kita zu überreichen. Dabei ist hilfreich, psychische Erkrankungen explizit, aber nicht isoliert anzusprechen. Das passt gut, wenn auf eine gelingende Zusammenarbeit zwischen Erzieherinnen beziehungsweise Erziehern und Eltern zum Wohl des Kindes eingegangen wird. Dafür ist es hilfreich, wenn Erzieherinnen und Erzieher über mögliche Belastungen des Kindes informiert werden. Bei möglichen Belastungen können neben einer Trennung von Eltern, Todesfällen in der Familie, schwerwiegenden körperlichen Erkrankungen und Suchtproblematiken der Eltern auch psychische Erkrankungen aufgezählt und auf die Mitbetroffenheit von Kindern aufmerksam gemacht werden. Außerdem wären Hinweise hilfreich, dass viele Familien davon betroffen sind, Erzieherinnen und Erzieher grundsätzlich unter Schweigepflicht stehen und diese Themen vertraulich behandeln und sie Familien bei Bedarf Anlaufstellen vermitteln können, wo diese weitergehende Unterstützung erhalten. Die Schule hat dann durch die Schulpflicht den Vorteil, dass dort wirklich alle familiär belasteten Kinder erreichbar sind und dass die Kinder dort entwicklungsbedingt besser ansprechbar sind. Im Rahmen von Unterricht oder an Projekttagen könnte mit Kindern – ohne von der konkreten Betroffenheit eines Kindes zu wissen – über Themen wie sexueller Missbrauch, Alkoholimus, psychische Erkrankungen und Belastungen in der Familie gesprochen und Kinder über das, was das mit ihnen macht und wo sie Unterstützung bekommen, informiert werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass Lehrerinnen und Lehrer die Schülerinnen und Schüler auch über ihre Schweigepflicht und deren Ausnahmen informieren. Wenn alle Schulkinder noch ein kleines Info-Kärtchen ausgehändigt bekämen, auf dem anonyme Beratungsmöglichkeiten auch im Internet zu diesen Themen stehen, wäre das ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Wenn alle Kinder in der Schule auch noch lernen würden, wie sie generell mit belastenden Situationen, die sie nicht verändern können, hilfreich umgehen und ihre unangenehmen Gefühlszustände beeinflussen können, würden wir alle Kinder insgesamt fürs Leben stärken. Das wäre für viele Kinder auch in der Corona-Krise hilfreich.

Maywald: Schwere seelische Erkrankungen können dazu führen, dass das Wohl insbesondere von jungen Kindern gefährdet ist. Wann muss ein Kind vor seinen kranken Eltern geschützt werden und werden diese Notlagen ausreichend erkannt?

Beeck: Für die Beantwortung dieser Frage ist es wichtig, sich die konkreten Symptome des psychisch erkrankten Erwachsenen, mit denen ein Kind zusammenlebt oder Kontakt hat, zu vergegenwärtigen und daneben die Bedürfnisse von Kindern zu betrachten. Welche davon kann ein sorgeberechtigter psychisch erkrankter Elternteil zumindest zeitweise erfüllen und welche nicht? Gibt es Erwachsene aus dem sozialen Umfeld der Familie, die ihn ergänzen und die Bedürfnisse des Kindes in diesen Zeiten erfüllen? Ist ein Kind ausreichend vor Übergriffen durch seinen psychisch erkrankten Elternteil geschützt? Wenn sich ein Elternteil – krankheitsbedingt oder nicht – schnell angegriffen fühlt und impulsiv handelt, kann es für ein Baby schnell sehr gefährlich werden. Auch Eltern, die unter schweren Wahnvorstellungen leiden, denen also jeder Realitätsbezug fehlt, können nicht mehr allein ausreichend für ihr Kind sorgen. Ist ein Elternteil beispielsweise aufgrund einer psychischen Erkrankung derart eingeschränkt, dass er nicht mehr in der Lage ist, ausreichend für sich selbst zu sorgen oder sich in einen anderen Menschen einzufühlen, kann er nicht allein für ein Kind sorgen. Wichtig ist mir zu betonen, dass für den Schutz eines Kindes dieses Kind nicht erst Auffälligkeiten im Sinne von Schäden entwickelt haben muss. Gerade davor gilt es das Kind zu bewahren. Das Leid und die Gefährdung extrem parentifizierter Kinder werden schnell übersehen, denn sie reagieren mit Verantwortungsübernahme und aktivem Handeln auf ihre Anforderungen. Sie sorgen für sich selbst, manchmal noch für jüngere Geschwister und ihre erkrankten Eltern. Sie scheinen trotz ihrer Belastungen gut zu funktionieren und entlasten im Hinblick auf ihre erkrankten Angehörigen auch noch das Gesundheitssystem – zunächst. Denn dauerhafte hohe Stressbelastungen gehen an niemandem spurlos vorbei. Diese Kinder stehen unter enormer Anspannung, fühlen sich oft hilflos, überfordert und sind voller Ängste. Sie reagieren oft psychosomatisch oder mit Autoaggressionen auf ihre Belastungen – beides Reaktionen, die zunächst nur für die Betroffenen, aber nicht für ihr Umfeld unangenehm sind. Daher ist der Handlungsdruck von außen gering, anders als beispielsweise bei Kindern, die anderen gegenüber aggressiv auftreten. Mir ist auch wichtig zu betonen, dass die Vermutung einer Kindeswohlgefährdung nicht zwangsläufig mit einer Trennung des Kindes von seinen Eltern einhergehen muss. Sie bedeutet aber auf jeden Fall, dass die Annahme von Hilfe für das Kind und eine Verbesserung der Situation für das Kind nicht mehr auf Freiwilligkeit der sorgeberechtigten Eltern beruht, sondern verpflichtend ist.

Maywald: Im Koalitionsvertrag der amtierenden Bundesregierung heißt es: „Wir wollen die Situation von Kindern psychisch kranker Eltern verbessern.“ Wenn Sie drei Wünsche an die Politik frei hätten, was wären Ihre Herzensangelegenheiten?

Beeck: Als erstes wünsche ich mir zum Wohl aller Kinder und damit unserer Gesellschaft, dass unser Schulsystem grundlegend reformiert wird. Alle Schulen sollten zu Orten für Kinder werden, an denen Kinder ihre persönlichen Stärken entdecken, die Freude am Lernen behalten und auf ein erfüllendes Leben vorbereitet werden. Orte, an denen sich Kinder als wichtiger Teil einer Gemeinschaft erleben, in denen sie etwas bewegen können und wo sie lernen, wie sie mit den Anforderungen des Lebens hilfreich umgehen und dabei unterstützt werden. Davon würden flächendeckend besonders diejenigen Kinder profitieren, die das – warum auch immer – nicht im Elternhaus lernen. Dann wünsche ich mir, dass Patenschafts- und Mentoringangebote für Kinder aus schwerwiegend belasteten Familien flächendeckend in Deutschland fest etabliert und dauerhaft finanziert werden. Dieser Unterstützungsansatz wurde im Expertendialog mit der Bundeskanzlerin bereits 2012 in die Vision für Deutschlands Zukunft für Kinder chronisch psychisch und somatisch erkrankter Eltern aufgenommen. Als drittes wünsche ich mir, dass der Schutz der Kinder der Patienten und die Unterstützung betroffener Familien als wichtige Aufgaben in der Erwachsenenpsychiatrie wahr- und angenommen werden, diese Themen standardisiert in der Aus- bzw. Weiterbildung der dort arbeitenden Fachkräfte eingebunden und entsprechende Kooperationen mit der Jugendhilfe flächendeckend aufgebaut werden. Im Gesundheitssystem sollte familienzentrierter behandelt und gehandelt werden. Lebt ein Patient mit Angehörigen zusammen, sollten diese immer in seine Behandlung mit einbezogen und die Bedürfnisse dieser Menschen bei Entscheidungen, die sie ebenfalls betreffen, mit berücksichtigt werden.

 

 

 

 

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